"Eigentlich" wollten wir genau zu dieser Zeit noch einmal den frühen Frühling auf La Gomera erleben, eigentlich eben. Doch zum träumen gibt es ja zum Glück meine kleine Geschichte aus noch gar nicht so lang zurückliegender Zeit.
Frühling früher
Teneriffa & La Gomera
Geheimtipps auf Teneriffa zu finden ist schwierig. Doch wenn man mit einem seit über 30 Jahren dort lebenden Auswanderer unterwegs ist, lässt sich das eine oder andere wenig bekannte Fleckchen oder Restaurant auf den beiden Kanareninseln entdecken. Kein Geheimtipp ist hingegen, dass Karl Spiegel (Text & Fotos) den Frühling schon sehr früh im Jahr erlebte.
Die ganze Geschichte hier:
Noch ist es ziemlich kühl am Morgen als wir aus der Touristenretortenstadt Playa des Las Americas heraus fahren. Selbst im Süden der Kanareninsel Teneriffa, sonst ein Garant für Sonne pur, kämpft diese ziemlich erfolglos gegen den Hochnebel an. Endlich haben wir auf der Straße nach Norden den touristischen Speckgürtel hinter uns gelassen und tauchen ein in eine andere Welt. Es ist nicht nur die kurvenreiche Bergstraße, es ist auch das ganz normale Leben der Einheimischen welches es zu genießen gilt. Willi van Bebber, mein Insider und Tourguide fährt mit seiner 1200 GS ziemlich flott voraus, so dass ich Mühe habe mit zu kommen, denn schließlich kann ich meinen Blick ja nicht nur auf die Straße richten sondern sollte diesen auch zum optischen Erkunden der Landschaft nutzen. Einen ersten Stopp machen wir am Aussichtspunkt Mirador de la Centinela. Weit reicht der Blick über den südlichen Teil der Insel. Brauntöne dominieren diesen Teil, von den unzähligen, eigentlich grünen Bananenplantagen, sind nur die riesigen Abdeckplanen zu sehen. Ohne diese wäre ein Anbau der gelben Frucht nicht möglich. Zu wenig Wasser und zu intensive Sonneneinstrahlung würden dies verhindern. Mittlerweile sind wir am Südhang der Corona Forestal, des alten Kraterrandes eines früheren Vulkans, angekommen. Kühn schmiegt sich die schmale Straße an diesen. Doch Wille folgt der TF-28 nicht weiter nach Norden, sondern biegt im Ort Granandilla de Abona unvermittelt auf ein winziges Sträßchen ab, welches mein Navi nur als „Unbekannte Straße“ kennt. Kaum breiter als ein Eselkarren mündet der Weg im kleinen Weiler Cruz de Tea. Ein paar Häuser, ein Laden, eine Kneipe. Mehr gibt es hier nicht. Doch die Kneipe ist, wie könnte es anders sein, der Mittelpunkt des Ortes. Einen ersten Kaffee lassen wir uns munden und hören interessiert den älteren Einwohnern bei ihrer lebhaften Diskussion über Gott und die Welt zu. Doch schnell zieht es uns wieder in den Sattel unserer Motorräder. Ein wahres Kurveneldorado führt hinauf in Richtung des höchsten Berges Spaniens, des Vulkans Teide. Wieder unvermittelt biegen wir links auf die TF-563 ab. Und dreistellige Straßennummern versprechen stets Kurvenspaß pur. Und so ist es auch. Talwärts gibt es kein gerades Stück Straße, ständig darf ich das Umlegen der Maschine von rechts nach links, von links nach rechts auskosten. Und mehr als einmal schleifen meine Stiefel am Boden. Vorbei an San Miguel de Abona sind wir nach wenigen Kilometern wieder auf einer dreistelligen Straße. In El Roque beginnt der Kurvenzauber nun bergauf. Niemand ist auf diesen Straßen unterwegs. Das ändert sich als wir auf der Hauptstraße zum Teide hinauf sind. Ganze Kolonnen von Mietwagen fahrenden Touristen und unzählige Busse quälen sich die steile Straße hinauf. Manchmal ist man selbst als Motorradfahrer froh, wenn eine Straße breit ausgebaut ist so wie diese. So können wir herzhaft flott überholen und dadurch die weit geschwungenen Kurven in flottem Tempo genießen. Als wir nach kurzer Zeit das Innere des großen Vulkankraters auf über 2.000 Metern erreichen, sehen wir, dass wir Nichts sehen. Der Teide ist nur schemenhaft zu erkennen, so stark ist der Dunst. Wir beschließen deshalb zu einer anderen Zeit wieder zu kommen. Doch beeindruckend ist die unmittelbare Umgebung. Mitten durch das schwarze Lavafeld, übrig geblieben von einem gewaltigen Ausbruch des Jahres 1798, führt die Straße. Trotz der langen Zeit hat die Vegetation bisher kaum Besitz von dieser bizarren Landschaft nehmen können. Bis zum Mirador de Chio bleibt es unwirklich, steinig und pechschwarz. Was dann folgt ist uninteressant. Eine breite und kurvenlose Straße führt nun wieder hinunter Richtung Küste. Wir folgen dem Wegweiser in den Ort Arguayo, ein Ort mit einem pittoresken Stadtbild und einem kleinen Marktplatz, der nicht nur aussieht als stamme er aus einer längst vergangenen Zeit, sondern dessen Bausubstanz tatsächlich historisch ist. Wer Anfang Februar hier ist, sollte nicht versäumen das Fest der Jungfrau von Candelaria, der Fiesta en Honor de Nuestra Señora de Candelaria, zu besuchen. Schokolade für Alle und ein Musikorchestermarathon von 23 Stunden sind die besonderen Highlights dieser Veranstaltung. Zwar gibt es heute auf dem Marktplatz keine heiße Schokolade jedoch einen köstlichen Café con leche. Auf kleinen Nebenstraßen fahren wir nun durch Felder mit vielen Mandelbäumen. Viel ist von der berauschenden Blütenpracht nicht mehr übrig. Auch hier ist der Klimawandel festzustellen, dauerte doch die Blütezeit früher bis in den April ist diese heute schon Ende Februar fast zu Ende. Nur wenige Kilometer entfernt, am südlichen Ortsausgang von Chio, stopt Willi um in den Hof eines Ladens einzubiegen. Delicias del Sol steht in großen Lettern über dem Eingang. Das ist einer der Geheimtipps meint er. Seit 1997 produzieren, die aus Deutschland ausgewanderten, Angelika Linde und Wolfgang Creter in ihrer Manufaktur Marmeladen, Chutneys, Sambals und die für die Kanaren so typischen Mojos. Alles in rein handwerklicher Qualität. Ich kann kaum aufhören die einzelnen Produkte zu probieren. Aber mal ganz ehrlich, wer würde schon aufhören bei Aprikose-Cointreau, Banane-Orange, Feigen-Brandy, Mandarin-Curacao, Mango-Mandel um nur einige zu nennen. Nach so viel Süßem braucht es Scharfes. Kleine Mengen auf Weißbrot lassen Gaumenfreude aufkommen. Hot-Mojo-Verde, Mojo-Canario, Mojo de Almendras oder extrascharfe Mojo Picon brennen höllisch lecker. Höchste Zeit mit Honig aus Teneriffa für sanftere Geschmacksnuancen zu sorgen. Gestärkt von so vielen Köstlichkeiten wollen wir noch ein paar knackige Motorradkilometer machen. In Tijaco Bajo führt ein schmaler Weg steil den Berg hinauf nach Tijaco Alto. Kurz vor dem Ort stürzt die Straße förmlich in die Tiefe, hinab in den Canyon de Barranco. So tief ist die kleine Schlucht, dass der Lärm der nahen Hauptstraße und der neuen Autobahn zurück bleibt.
Am nächsten Tag darf ich mich entscheiden ob ich bis zum Treffpunkt im Norden der Insel drei Stunden oder nur eine Stunde fahren möchte. So groß ist der Unterschied zwischen der Autobahn- und der Landstraßenvariante. Die Entscheidung liegt irgendwo dazwischen. Bis zur Ausfahrt Güimar nehme ich die zu dieser Zeit fast leere Autobahn. Was nun folgt ist eine fahrerische Traumstrecke. Auf glattem Asphalt führt die TF 523 steil am Kraterrand hinauf. Kurve an Kurve, Schnelle, Langsame und Knifflige wechseln sich in lockerer Folge ab. Hier gibt es auch die „Applauskurve“ der einheimischen Motorradfahrer. Mein Tempo und meine Schräglage reichen jedoch nur zu einem freundlichen Gruß. Je höher ich komme, desto kühler, ja fast kalt wird es. Je höher ich komme desto grüner, desto mehr Wald gibt es. Es ist als würde ich durch die Wälder der französischen Seealpen fahren. Nun wird es ungemütlicher. Dichter Nebel zieht durch die Bäume, die Straße ist nass und verlangt, weil überall viele Piniennadeln auf der Fahrbahn liegen, nach einer sehr vorrausschauenden Fahrweise. Erst kurz vor dem Örtchen Las Rosas sehe ich wieder das Sonnenlicht. Hier ist auch unser Treffpunkt. Wieder ein kleiner Geheimtipp. Der Markt der Stadt, der Mercatillo, ist etwas Besonderes. Alle Produkte stammen ausschließlich aus der näheren Umgebung. Die Bauern und Hersteller bekommen dafür einen festen, garantierten Preis, der deutlich höher liegt als die Einkäufer aus den großen Städten bieten. Dennoch sind die Preise für den Endverbraucher wesentlich günstiger. Neudeutsch würde man sagen es ist eine win-win-Situation. Doch bei all dieser guten ökonomischen Idee steht auch der Geschmack im Vordergrund. Frisch geerntete, vollreife Bananen, Mandarinen und Orangen schmecken einfach lecker. Gestärkt durch einen Milchkaffee will Willi mir heute noch ein paar Leckerbissen, sowohl kulinarisch als auch fahrerisch zeigen. Kaum habe ich in den vierten Gang geschaltet, heißt es bereits kurz anzuhalten. An einem äußerlich ziemlich unscheinbaren Bau erklärt er, dass das Restaurant Bodegón Campestre im Ort Lomo Pelacio einen so guten Ruf hat, dass man am Wochenende sogar Nummern ziehen muss um einen Platz zu bekommen. Touristen sind kaum zu finden, das Restaurant wird hauptsächlich von Einheimischen frequentiert. Je näher wir nun der 150.000 Einwohner zählenden Stadt San Cristóbal de La Laguna kommen, desto mehr nimmt auch der Verkehr zu. Nur langsam kommen wir dem Zentrum näher. Zur wunderschönen Kathedrale, deren Anfänge zu Beginn des 16. Jahrhunderts liegen kommen wir allerdings heute nicht direkt. Alles ist für den am Nachmittag stattfindenden Volksmarsch abgesperrt. So machen wir uns auf ins Nahe Santa Cruz. Drei riesige Kreuzfahrtschiffe sind im Hafen vor Anker gegangen, kein Wunder daher, dass die Stadt vor Touristen momentan nur so überquillt. Da ich jedoch heute Nacht eh in dieser Stadt übernachten werde, wird die Erkundung gedanklich auf den Abend verschoben. Nur ein paar Fahrminuten entlang der Küste gelangen wir zwar nicht zu einem Geheimtipp aber dennoch zu einer Attraktion. Es ist der in den 70er Jahren mit Sand aus der Sahara künstlich angelegte, rund zwei Kilometer lange, Sandstrand Las Terresitas. Gesäumt von Palmen kommt hier Urlaubsfeeling pur auf. Um den Strand in seiner ganzen Schönheit betrachten zu können, fahren wir hinauf zum Mirador dos Playas. Tief unter uns schlagen die Wellen des tiefblauen Meeres an den goldgelben, sichelförmigen Strand während in der Ferne die Konturen von Santa Cruz zu sehen sind. Zurück im Ort San Andrés beginnt eine der schönsten Bergstrecken der Insel, hinauf auf fast tausend Höhenmeter. Kurve an Kurve lässt das Motorradfahrerherz höher schlagen.
Willi, heute mit seiner Lebensgefährtin Jana unterwegs, gibt ein moderates Tempo vor. Schnell genug um die Kurven auszukosten, langsam genug um die Landschaft entlang des Weges genießen zu können. Je höher wir kommen, desto nebliger wird es. Die Temperatur ist innerhalb weniger Minuten von 23 Grad auf nur noch 10 Grad gesunken. Auf dem Scheitel des Bergrückens kann ich immer wieder, durch die Wolken hindurch, das Meer erblicken. Nach links die Ostküste, nach rechts die Westküste. Kurz hinter dem Aussichtspunkt Pico de Ingles ist es Zeit für das Mittagsessen. Und wieder hat Willi einen Geheimtipp für mich parat. Es ist das urige Restaurant Merendero Casa Carlos. Ein riesiger, offener Grill steht direkt auf dem Parkplatz vor dem Haus. Große Mengen Hähnchenteile, Steaks und grobe Würste brutzeln geräuschvoll vor sich hin. Der vom Grillgut ausströmende Geruch lässt die Magennerven erwartungsvoll knurren. Einfach und urig geht es im verwinkelten Inneren des Gasthauses zu. Wir haben Glück und bekommen ganz im hinteren Teil noch einen Tisch mit drei Plätzen. Nach einem kulinarischen Geschmacksfeuerwerk hilft ein starker Espresso die Verdauung anzuregen. Wieder auf dem Sattel unserer Maschinen sind es nur wenige hundert Meter zum Abzweig auf die TF 145 Richtung Carboneras und Taborno. Willi biegt nach zwei Kilometern dann endgültig Richtung Taborno ab. Atemberaubend schön, durch eine tiefgrüne, üppig bewachsene Berglandschaft erreichen wir nach vier Kilometer die wenigen Häuser des Ortes. Hier soll er sein, der absolute kulinarische Geheimtipp der Insel. Einen Tipp, den Willi erst so gar nicht richtig herausrücken wollte. Es ist das Restaurant mit dem ungewöhnlichen Namen „Historias para no dormir“, wörtlich übersetzt: Geschichten zum nicht einschlafen. Der schlichte äußere Eindruck täuscht. Statt einer einfachen Landküche kann sich der Gast über ein exzellentes, französisch traditionelles, Dreigangmenü freuen. Dazu werden die Gerichte mit Blumen und anderen Accessoires liebevoll garniert. Ein Gedicht sind die vielfältigen und einfallsreichen Nachspeisen. Wer kann schon bei einer selbst gemachten Mousse au chocolat oder einem pechschwarzen Schokoladenkuchen, jeweils gekrönt von frisch geschlagener Schlagsahne, nein sagen? Ich zwangsweise schon, aber nicht etwa weil ich noch satt vom Mittagessen bin, nein, weil es einfach keine freien Sitzplätze gibt. Die Chefin des Hauses hat wohl meine glitzernden Augen gesehen und drückt mir eine Visitenkarte mit der Telefonnummer des Restaurants in die Hand. Ich solle unbedingt mindestens zwei Tage, am Wochenende besser noch eine Woche vorher anrufen und einen Tisch reservieren. So bleibt mir im Moment nur mit den Augen die Köstlichkeiten auf den Tellern zu genießen.
Den Rest des Tages bin ich nun allein unterwegs. Ich nehme mir vor die Straße die von der Kammstraße des Anagagebirges hinunter an die Nordwestküste führt zu befahren. Mittlerweile stecke ich mitten in den Wolken und habe kaum noch mehr als 30 Meter Sichtweite. So zweige ich irgendwo falsch ab und merke erst an der Sackgasse im Ort Charmorga, dass ich wohl nicht richtig abgebogen bin. Langsam taste ich mich zurück und finde doch noch den Abzweig zur TF 134. Die Sicht ist nur unwesentlich besser geworden, reicht aber jetzt wenigstens stets bis zur nächsten Kurve. So kann ich die abenteuerliche Streckenführung mit unendlich vielen Kurven und Spitzkehren nur erfühlen aber nicht in ganzer Pracht sehen. Erst kurz vor dem Meer reißt der Wolkenvorhang auf und gibt den Blick frei auf die vom Wind aufgepeitschte Wasseroberfläche. Am nördlichen Ortsrand von Benijo endet die asphaltierte Straße. Ab hier geht es nur auf einer schmalen, steilen, geschotterten Piste weiter. Als ich vor Jahren schon einmal hier stand, traute ich mich nicht weiter zu fahren. Heute stehen die Zeichen besser, die Piste ist trocken und macht einen guten Eindruck. Umso mehr bin ich erstaunt, dass nach kurzer Zeit der Weg wieder mit einem Straßenbelag versehen ist. Soll der erste Schotterteil etwa neugierige Touristen abschrecken? Ich jedenfalls genieße jeden Meter, denn der Blick entlang der zerklüfteten Küste könnte atemberaubender nicht sein. Im Dorf El Daguillo mache ich erst wieder kehrt, setze mich in die nach Wildkräutern duftende Wiese und lasse die Seele zwischen Meer und Bergen baumeln. Die langsam untergehende Sonne erinnert mich daran, dass ich eigentlich vor Dunkelheit in meiner Unterkunft, im Herzen von Santa Cruz, sein wollte. Ganz schaffe ich es nicht, denn für die nur dreißig Kilometer brauche ich mehr als eine Stunde. Längst sind die vielen Kreuzfahrttouristen wieder auf ihren Schiffen. Die Stadt gehört wieder den Einheimischen. Doch es ist keineswegs ruhiger geworden. Einen Platz zum Abendessen muss ich mir mühselig suchen und noch bis spät in die Nacht pulsiert das Leben in den Straßen.
Am nächsten Tag will ich hinüber zur Nachbarinsel La Gomera. Da ich die Nachmittagsfähre gewählt habe, bleibt mir viel Zeit um von Santa Cruz nach Los Christianos im Süden der Insel zu gelangen. So genieße ich die Fahrt in den frühen Morgenstunden hinauf auf den Teide. Bitterkalt ist es. Und als ich das Höhenschild mit der Aufschrift 2.300 Meter passiere, zeigt mein Thermometer nur noch fünf Grad Celsius an. Doch was ist dies schon gegen das Szenario, was mir hier präsentiert wird. Mutterseelenallein durchfahre ich diesen in Urzeiten brodelnden Hexenkessel der Natur, die rund siebzehn Kilometer im Durchmesser bildende Caldera eines früheren Vulkans. Im scharfen Morgenlicht glitzern die schwarzen und weißlichen Lavabrocken um die Wette. Doch damit ist das Farbspektrum noch längst nicht erschöpft. An vielen Stellen sind grüne, bläuliche und türkische Farbnuancen zu entdecken. Und über diesem Bild thront der schlafende, 3.718 Meter hohe, Vulkan. Heute ist es so klar, dass ich jede Einzelheit des Gipfels deutlich wahrnehmen kann. Und immer noch bin ich ganz allein unterwegs. Früh aufstehen ist hier der Geheimtipp. Nur die immer klammer werdenden Hände können mich von diesem Anblick losreißen. Doch im Kurvengeschlängel hinunter zum Hafen von Los Cristianos werde ich wieder warm.
Mit einem PS-Verhältnis von 396:1, 49.480 PS zu 125 PS meiner BMW bringt mich der zweitgrößte Trimaran der Welt hinüber zur Insel La Gomera. Wenn man dem Schiffsradar Glauben schenken darf, so bin ich mit sagenhaften 49 Knoten unterwegs, dies sind über 90 Kilometer pro Stunde. Angekommen in der Inselhauptstadt San Sebastían de la Gomera merke ich gleich, dass hier die Uhren anders gehen. Keine Hektik, kaum Autoverkehr, nur wenige Touristen. Ziemlich unspektakulär geht es auf der viel zu breiten und fast kurvenlosen GM 1 in die Höhen der Insel. Erst als ich diese Höhen erreiche, wandelt sich das Bild. Knackige Kurven und ein stetes Ab und Auf begleiten meinen Weg ins Tal Hermigua. Der Blick ins Tal ist so schön, dass ich erst einmal anhalten muss um in Ruhe diese Aussicht zu genießen. Besonders eindrucksvoll ist es, dass die vielen Bananenplantagen nicht unter einer Plane versteckt sind, sondern saftig grün in der Sonne leuchten. Kein Hochhaus, kein Touristenkomplex stört diese Idylle. Ein paar Kilometer, weiter im Dorf Agulo, beziehe ich Quartier. Das Hotel Casa Lugo ist in einem typischen Haus im historischen Teil Agulos untergebracht. Witzig ist, dass es bis heute keine Glasscheiben an den Fenstern der Zimmer gibt. Öffnet man die Fensterläden so stört kein Glas den Blick nach draußen. Trotz der Verlockungen des Hauses zieht es mich noch einmal auf den Sattel meines Motorrades. Einen etwas ungewöhnlichen Tipp sollte man in La Gomera beherzigen: das Navi komplett ausschalten und einfach nur „frei nach Schnauze“ fahren und genießen. Und genauso halte ich es auch. Nach dem Kurvenrausch von Agulo zum Dorf Vallehermoso lande ich unvermittelt auf einer kleinen Nebenstraße. Alojera steht auf dem Hinweisschild. Stets den Blick auf das Meer gerichtet gleite ich rund elf Kilometer auf dieser wunderschönen Straße den Berghang hinunter. Niemand ist unterwegs und erst im winzigen Playa de Alojera endet dieses Geschenk. Direkt am grauschwarzen Lavastrand finde ich ein Restaurant. Es ist eine einfache Küche, ein Fischfilet gegart in viel Olivenöl, dazu die typischen Kartoffeln mit Salzkruste, die Papas arugadas. Und, wie könnte es anders sein, herrlich scharfe Mojos, einmal in grün und einmal in rot.
Langsam senkt sich die Sonne, langsam sollte auch ich aufbrechen und wieder hinüber nach Agulo fahren. Diesmal nehme ich nicht den Weg über Vallehermoso sondern die Höhenstraße durch den Nationalpark. Nach wenigen Kilometer zweigt im spitzen Winkel eine Straße ins Besucherzentrum des Parks ab. Diese führt gleichzeitig nach Agulo. Siebzehn Kilometer Genussstrecke pur. Es geht durch die feuchten Lorbeerwälder, vorbei an riesigen Farnen. Manchmal fahre ich durch einen grünen Tunnel aus sich in der Mitte der Straße treffenden Bäumen, oft muss ich in Kurven das Tempo reduzieren, da es überall feucht ist und Erde auf der Straße liegt. Doch das tut dem Vergnügen keinen Abbruch. Wieder zurück in Agulo schlendere ich zu Fuß durch diesen so ursprünglichen Ort. Grob gepflastert sind die Straßen, weiß gekalkt die alten Häuser. Doch die Idylle ist trügerisch. Kaum noch jüngere Menschen gäbe es hier erzählt mir ein älterer Herr, der sich neben mich auf die Bank setzt. Zu verlockend sind die Arbeitsmöglichkeiten auf der Nachbarinsel Teneriffa und wer erst einmal dort studiert hat, bleibt oder zieht gar ins ferne Europa. Stunden später treffe ich ihn wieder. Diesmal beim gemeinsamen Fernsehabend der Dorfälteren in der Bar Mantillo. Diese Bar ist auch ein kleiner Geheimtipp, gibt es doch hier typische Hausmannkost aus frischen Produkten der Insel, liebevoll gekocht von der Chefin des Hauses. Sie empfiehlt mir einen Fischeintopf mit, wie könnte es anders sein, Salzkartoffeln. Und sie empfiehlt mir auch den schweren Rotwein der Insel. Während ich Essen und Trinken genieße, genieße ich auch die Atmosphäre der Bar, denn autentischer und echter kann man das Inselleben kaum erleben.
Geweckt werde ich durch Krähen eines Hahns und die ersten, wärmenden Strahlen der Sonne. Einen ganzen Tag will ich heute, wieder ohne Navi Unterstützung, kreuz und quer über die Insel fahren. Hinauf in den Nationalpark treibt es mich in den trockenen, südwestlichen Teil der Insel. Über Las Hayas, El Cerdado und Temocadá geht es auf schmaler, von unzähligen Kurven gespickter Straße steil hinunter ans Meer. Bananenanbau ist die Lebensgrundlage der wenigen, hier wohnenden, Menschen. Zum Schutz vor starker Sonneneinstrahlung und Austrocknung sind die Plantagen in diesem Teil von La Gomera, wie im Süden Teneriffas, mit Stoffplanen abgedeckt. So unterbricht kein Farbtupfer die braunen Töne der ausgetrockneten Landschaft. Am Strand von Rajita endet die Straße. Weiter geht es nicht mehr. Wie ich so auf das Meer hinaus sehe, fällt mir ein, dass Willi mir noch einen Geheimtipp für La Gomera aufgeschrieben hat. Doch ich solle vorher sicherheitshalber anrufen, ob die Bar überhaupt geöffnet hat. Gleich beim ersten Klingelton wird abgenommen und mir erzählt, dass ich auch zum Essen kommen könne. Fast eine Stunde brauche ich für die dreißig Kilometer auf der Hauptstraße bis zum Abzweig auf die CV 16. Arure fünf Kilometer, lese ich auf dem Wegweiser. Der Ort Taguluche, den ich erreichen möchte, steht allerdings nicht auf dem Schild. Aufgut Glück fahre ich weiter. Nach vier Kilometern sehe ich den richtigen Wegweiser. Was folgt, ist eine kleine, einspurige Straße, ohne jegliche Sicherungsmaßnahme. Nur eine Handbreit trennt die Straße vom Abgrund. Instinktiv fahre ich lieber in der Mitte der Straße. Sieben Kilometer, die es in sich haben, sieben Kilometer bis zum Dorf am Ende der Welt. Nur wenige Häuser stehen hier, dafür umso mehr Palmen. Kein Laut stört die Idylle, nur Vogelgezwitscher ist zu hören. Nicht zu verfehlen ist die Bar Taguluche, die Bar, die ich vorhin angerufen habe. Bei einem starken Cafe solo frage ich nach, ob es stimmt, dass das Tal früher wirklich Tal der Frauen genannt wurde, weil angeblich nur weibliche Kinder geboren wurden. Sie lächelt und erzählt, dass früher alle Kinder weibliche Vornamen erhalten haben, denn Männer mussten zum Wehrdienst. Dies funktionierte allerdings nur solange, wie das Dorf ausschließlich über einen beschwerlichen Fußmarsch zu erreichen war. Nach dem Bau der Straße war es mit diesem Schwindel vorbei.
Zurück im Kurvenrausch, vorbei an Vallehermosa, Tamargada bis nach Las Rosas genieße ich diese Motorradtraumstraße dreißig Kilometer lang und brauche dafür ziemlich genau eine Stunde. Dann folge ich, da ich einen ganz besonderen Aussichtspunkt ansteuern möchte, zunächst dem Wegweiser zum Besucherzentrum des Nationalparks Garajonay. Direkt am Gebäude geht es links ab. Auf einer schmalen Hochstraße erreiche ich nach drei Kilometern den Aussichtspunkt Mirador de Abrante. Doch ein gewöhnlicher Aussichtspunkt ist dies nicht. Direkt über dem Steilhang wurde 2014 eine gläserne Plattform errichtet, die sieben Meter freitragend über den Abgrund hinausragt. Für ein mulmiges Gefühl sorgt der Glasboden. Der Ausblick ist überwältigend. In der Ferne sieht man am Horizont den Vulkan Teide auf Teneriffa, während tief unten das Dorf Agulo mit seinen kleinen Häusern und Feldern liegt.
Viel zu schnell ist die Zeit auf La Gomera vorbei gegangen, viel zu schnell stehe ich wieder im Hafen von San Sebastian und warte auf die Fähre nach Teneriffa. Doch es warten noch zwei Highlights auf mich. So mache ich mich, wieder begleitet von meinem Insider Willi, auf, noch eine weitere anspruchsvolle Strecke zu befahren. Gestärkt durch einen starken Café solo, im pittoresken Ort Santiago del Teide, werfen wir uns die einspurige Bergstraße nach Masca hinunter. Da diese Strecke ein bevorzugtes Ziel von Touristen ist, sind viele Mietwagen und auch viele viel zu große Busse unterwegs. Zwischen den Ausweichstellen kommt es stets zu haarsträubenden Szenen. Kein Wunder, denn zwei PKW kommen nicht aneinander vorbei. So bleibt der Spaß, im wahrsten Sinne des Wortes, auf der Strecke. Für diese Strecke gilt, dass sie spätestens bis neun Uhr morgens oder dann wieder ab sechs Uhr abends befahren werden sollte. Ziemlich frustriert drehen wir wieder um.
Aber es gibt ja noch einen weiteren Leckerbissen. So fahren wir zunächst Richtung Icod de los Vinos. Doch schon im Dorf El Tanque biegt Willi auf eine kleine, schmale und extrem kurvenreiche Straße ab. 600 Höhenmeter auf 10 Kilometer in 25 Minuten stehen auf der Bilanz als wir das Meer erreichen. Von dort, über den Ort Buenavista del Norte, schlängelt sich atemberaubend die Straße die Steilküste entlang. Ziel ist der Leuchtturm, Faro de Teno, am Ende dieser Genussstrecke. Bis vor kurzer Zeit durfte diese Straße nicht befahren werden. Nach umfassenden Felssicherungsmaßnahmen ist die Befahrung, außer Samstag und Sonntag, wieder möglich. Tief unter uns brandet das wilde Meer lautstark an die Felsen, über uns hängt die mehrere hundert Meter hohe Steilwand. Unsere Teneriffa Rundreise lassen wir an einem wunderschönen „Seelebaumelplatz“ ausklingen. Am Ende des Golfplatzes von Buenavista, an der Playa La Arena, liegt, direkt am Meer, das Restaurant El Burgado. In der Ferne der Blick auf die Steilküste und die blühenden Felder und vor uns das köstliche, traditionelle Fischgericht, Pescado a la Espalda. So lässt sich der frühe Frühling genießen.
Infoblock
Allgemeines
Eine grundsätzliche Überlegung ist, ob man eine Pauschalreise bucht oder sich für die Individualvariante entscheidet. Durch Billigairlines und Buchungsportale ist die individuelle Planung zu
moderaten Preisen leicht. So lassen sich die kleinen, romantischen Ecken und rustikalen Hotels der Insel besser entdecken. Für den üblichen ein, zwei, drei Wochen Urlaub ist die Motorradmiete am
praktikabelsten. Nicht nur neue BMW Motorräder, sondern auch viele Insiderinformation bietet Willi van Bebber, meinem „Insider“, von Teneriffa on Bike. (www.teneriffa-on-bike.de). Wer länger als vier bis fünf Wochen Zeit hat oder gar ein Langzeiturlauber ist, sollte darüber nachdenken, die über 2.300 Kilometer lange Anreise mit
dem eigenen Motorrad nach Südspanien auf sich zu nehmen, um mit der Fähre die Kanaren zu erreichen.
Restauranttipps
Restaurant Bodegón Campestre, Calle Bethencourt, 2, 38290 Lomo Pelado
Restaurant Merendero Casa Carlos, 38139 Las Casas de la Cumbre
Restaurant Historias para no dormir, Lugar Caserío Taborno, 0 S N, 38294 Taborno
Restaurant El Burgado, Camino el Rincón, s/n, 38480 Buenavista del Nte.
Bar Mantillo, Calle el Mantillo, 38830 Agulo, La Gomera
Bar Taguluche, Ctra. General Taguluche, 11, 38852 Valle Gran Rey, La Gomera
Delikatessen Delicias del Sol, Paseo de la Libertad, 65, 38689 Chío
Literatur / Karten
Teneriffa, Reise Know How, ISBN 9783896622990, 8. Aufl. 2017
La Gomera, Reise Know How, ISBN 9783831727681, 9. Aufl. 2016
Kompass Wanderkarte Teneriffa WK233, 1:50.000, ISBN 9783854910381, 01/2017
Kompass Wanderkarte La Gomera WK231, 1;30.000, ISBN 9783854910152, 12/2016
Eine kompakte Version dieser Reisereportage ist im „Motorradfahrer“ (jetzt Motorrad News) erschienen.
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